Deutschland schreibt derzeit mit seiner Strafverfolgung nach dem Weltrechtsprinzip Justizgeschichte. Um was genau geht es dabei? Von Jamil Balga-Koch und Teresa Quadt
Viele kennen die behördliche Weiterleitung eines Anliegens mit den Worten: „Tut uns leid, wir sind hier nicht zuständig“. Welches Gericht in Deutschland in einem Strafverfahren zuständig ist, richtet sich normalerweise nach dem Tatort, dem Wohnsitz oder dem Aufenthaltsort des Täters, bzw. nach dem Ort der Verhaftung oder Festnahme. Nur in Ausnahmefällen kann davon abgewichen werden, indem der Gerichtsstand anders bestimmt wird. Allgemein gilt: Wenn keiner dieser Orte in Deutschland liegt, ist Deutschland auch nicht zuständig, sondern eben ein anderes, ausländisches Gericht.
In Deutschland stehen derzeit Angeklagte wegen schwerster Menschenrechtsverbrechen vor Gericht. Begangen wurden die Verbrechen nicht hierzulande, und weder die Angeklagten noch die Opfer besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Verhandelt wird aber in Frankfurt am Main und Koblenz. In Koblenz geht es um Staatsfolter in Syrien durch ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter (Amnesty Journal 04/20). Im Verfahren in Frankfurt ist der Angeklagte ein irakischer Staatsbürger, und die vermeintliche Tat wurde im Nordirak begangen. Der Angeklagte befand sich zunächst im Irak, später in Griechenland. Die Opfer, eine jesidische Frau und ihre fünfjährige Tochter, die verkauft und versklavt worden sein sollen, sind ebenfalls irakische Staatsangehörige. Die Fünfjährige wurde im Irak getötet.
Warum stehen diese Angeklagten nun in Deutschland vor Gericht? Wegen des Weltrechtsprinzips.
Was ist das Weltrechtsprinzip?
Die Grundidee des Weltrechtsprinzips ist, dass Verbrechen begangen wurden, die so gravierend sind, dass universelle Werte verletzt werden und die Welt als Gemeinschaft betroffen ist. Jedes Land darf dann tätig werden und im Namen der Weltgemeinschaft gegen die drohende Straflosigkeit solcher Verbrechen kämpfen. Das Weltrechtsprinzip galt zunächst im Bereich der Piraterie und wurde dann ausgeweitet auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Begeht jemand ein solches Verbrechen, darf jedes Land auch ohne besondere Verbindung zum Fall die Straftat verfolgen.
In welchen Fällen wird es in Deutschland angewandt?
In Deutschland gilt das Weltrechtsprinzip vor allem für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, die im Ausland begangen wurden und keinen Bezug zu Deutschland haben. So steht es im Völkerstrafgesetzbuch. Da daraus theoretisch Hunderte von Verfahren resultieren könnten, die die zuständigen Behörden überlasten würden, wird in der Praxis oft ein Bezug zu Deutschland verlangt. Meistens ist dies der Fall, wenn sich mutmaßliche Täter_innen in Deutschland aufhalten.
Was ist so besonders am Weltrechtsprinzip?
Das Weltrechtsprinzip soll erreichen, dass mutmaßliche Täter_innen schwerster Menschenrechtsverletzungen keinen sicheren Unterschlupf außerhalb ihrer Heimatländer finden und überall auf der Welt für diese Verbrechen belangt werden können. Das heißt, Länder wie Deutschland sind kein „sicherer Hafen“ für mutmaßliche Verbrecher_innen, weil sie hier für im Ausland begangene Taten zur Rechenschaft gezogen werden können. Da internationale Gerichte, die für solche Verbrechen zuständig sind, aus Kapazitätsgründen nicht alle mutmaßlichen Täter_innen vor Gericht stellen können, helfen andere Länder mit der Anwendung des Weltrechtsprinzips aus. Somit ist dieses Prinzip – zumindest in der Theorie – ein wichtiger Baustein zur Beendigung der Straflosigkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen weltweit sowie für die Schaffung von Gerechtigkeit für die Opfer dieser Verbrechen.
Wo wurde das Weltrechtsprinzip zum ersten Mal angewandt?
1994 hat Deutschland zum ersten Mal auf dieser Grundlage eine Anklage erhoben. Die Behörden verhafteten den Serben Duško Tadić in München wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im ehemaligen Jugoslawien. Das Verfahren wurde aber an den Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag abgegeben, der Tadić zu 20 Jahren Haft verurteilte.
Wo wird es sonst noch angewandt?
2019 wurde auf Grundlage des Weltrechtsprinzips gegen mindestens 207 Verdächtige ermittelt. In insgesamt 16 verschiedenen Ländern, darunter Argentinien, Spanien, Ungarn, Ghana und den Niederlanden. Mit Abstand die meisten Verfahren liefen 2019 in Frankreich, dort waren es 15, gefolgt von der Schweiz und Deutschland mit je sechs Verfahren. Glücklicherweise steigen die Zahlen jährlich an. Grundsätzlich kann jedes Land das Weltrechtsprinzip anwenden.
Wann fiel das erste Urteil in Deutschland auf Grundlage des Weltrechtsprinzips?
Das erste Urteil erging am 18. Februar 2014 am Oberlandesgericht Frankfurt gegen einen ehemaligen Bürgermeister aus Ruanda. Er wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt wegen Beihilfe zum Völkermord im Jahr 1994. Dieses Urteil wurde wenig später vom Bundesgerichtshof gekippt. Er war der Ansicht, der Angeklagte hätte nicht nur als Helfer, sondern als Verantwortlicher für die Verbrechen verurteilt werden können. Der Fall wurde daraufhin erneut verhandelt und endete am 29. Dezember 2015 mit einem Schuldspruch und einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Völkermords.
Gibt es Kritik am Weltrechtsprinzip?
Ja. Die Anwendung kann zu Konflikten zwischen Ländern führen, etwa wenn ein Land ein Verfahren gegen Regierungsvertreter_innen eines anderen Landes eröffnet. Dies führte zum Beispiel im Jahr 2000 zu einem Rechtsstreit zwischen Belgien und der Demokratischen Republik Kongo. Das Weltrechtsrechtsprinzip kann zwar weltweit angewandt werden, ist de facto aber gängige Rechtspraxis vor allem in EU-Staaten sowie in der Schweiz und Großbritannien. Die Verfahren sind teuer, aufwändig und finden deshalb meist in reichen Ländern statt. Als Herausforderung gilt auch die Aufgabe, Opfer und Zeug_innen vor und nach ihren Aussagen in ihren Heimatländern zu schützen.
Warum schreibt gerade Deutschland Justizgeschichte?
Für die Gewalttaten in Syrien gibt es keine umfassende Strafverfolgung. Auf globaler Ebene blockieren Länder wie Russland und China mögliche Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs. Deutschland spielt deshalb eine wesentliche Rolle bei der Bekämpfung von Straflosigkeit und sendet ein wichtiges Zeichen in die Welt: Straftäter_innen sind in Deutschland nicht sicher vor Verfolgung. Noch spektakulärer ist der Fall in Frankfurt am Main, denn ganz ohne Bezug zu Deutschland ist sein Signal: Wenn solch ein Fall vor deutschen Gerichten verhandelt wird, droht Schwerverbrecher_innen nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt die Strafverfolgung.
Erschienen im Amnesty Journal 03/21
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