53. Verhandlungstag – Hauptverhandlung gegen Taha Al-J (30. November 2021)

Johanna & Pia

Verfahrensbeteiligte sind vollständig anwesend, insbesondere auch die Nebenklägerin und Überlebende Nora B.

Tenor: Verurteilung zu lebenslanger Haft wegen Völkermordes in Tateinheit u.a. mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Einzelnen:

-§ 6 I Nr. 2 VStGB (bzgl. des Kindes körperliche Schäden und bzgl. der Mutter seelische Schäden)
-§ 7 I Nr. 3, 5, 8, 9, III VStGB
-§ 8 I Var. 2 Nr. 3, 9, IV 1 VStGB (bzgl. der Nummern sind wir uns hier nicht hundertprozentig sicher: vermutlich meine er sagte Nr. 9 trete hinter Nr. 3 zurück)
-§ 8 I Nr. 6 VStGB, § 27 I StGB
-§§ 223 I, 227 I StGB

Strafe richtet sich gem. § 52 II 1 StGB nach § 6 I VStGB = lebenslang. Insbesondere liegt kein minder schwerer Fall vor. Die besondere Schwere der Schuld wurde allerdings auch nicht festgestellt.

Adhäsionsklage: zulässig und begründet, nach irakischem Zivilrecht Schadensersatz für immateriellen Schaden von Nora B. iHv 50.000 Euro zu zahlen.

Im Einzelnen:

Der vorsitzende Richter betont in seiner Urteilsbegründung, dass es sich bei dem heutigen Urteil um die weltweit erste Verurteilung wegen Völkermordes an den Jesid:innen handelt. Er betont die Bedeutung des Weltrechtsprinzips, dass ein solches Urteil überhaupt erst möglich mache. Der Staat übe seine Justizgewalt hier im Interesse aller Staaten der Welt aus. Bei dem vom Tatbestand des Völkermordes geschützten Rechtsgut handele es sich um ein universelles Rechtsgut, dessen Schutz im Interesse aller Staaten stehe. Die Begehung des „crime of all crimes“ betreffe alle Menschen weltweit. Die Erwartungen an das Frankfurter Verfahren seitens der international Gemeinschaft seien entsprechend hoch gewesen.

Das vorliegende Verfahren sei ein besonderes gewesen: Es handele sich um die historische Aufarbeitung eines Sachverhaltes in einem fremden Land. Die Verfahrensbeteiligten haben sich mit dem Leid einer ganzen Gruppe von Menschen beschäftigt.

Aber: Heute zähle nur die persönliche Schuld des Angeklagten. Die höchste Priorität komme der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu. Bei dieser Feststellung, sei nicht nur die breite Erfahrung des Senats, die bspw. im Verfahren wg. Des Völkermordes in Ruanda gesammelt werden konnte, hilfreich gewesen. Auch die gründliche Ermittlungstätigkeit der Bundesanwaltschaft, die Einlassungen der Sachverständigen und die Förderung des Prozesses durch die sonstigen Verfahrensbeteiligten sei sehr konstruktiv und hilfreich gewesen.

An diesem Punkt musste die Urteilsverlesung für mehr als eine halbe Stunde unterbrochen werden, weil der Angeklagte in Ohnmacht gefallen und ärztlich versorgt werden musste.

Der vorsitzende Richter betont das Leid, das den Jesid:innen durch den IS zugefügt wurde. Das Gericht sei sich insbesondere bewusst, wie schwer es für die Nebenklägerin war an insgesamt 7 Verhandlungstagen, von ihrem Schicksal zu berichten. Das Gericht sei davon persönlich tief bewegt. Gleichwohl sei es die Aufgabe des Gerichts gewesen Fragen zu stellen, wobei sie allerdings bemüht waren die schwere Situation zu berücksichtigen. Wünscht Nora B., ihr Leid zu tragen und Frieden zu finden.

Im Folgenden Darlegung der dem Urteil zugrunde gelegten Tatsachen:

  1.  Darstellung des Lebensweges des Angeklagten
    Schilderung von bürgerkriegsgeprägter und gewaltvoller Kindheit und Jugend des Angeklagten, zudem von seiner Stellung innerhalb des IS als Ruqyah-Heiler (eine Art Exorzismus). Kennenlernen und Hochzeit mit Jennifer W. Nach den Feststellungen des Gerichts wusste der Angeklagte von der Sklaverei durch den IS und den damit angestrebten Zweck der Vernichtung aller Jesid:innen.
  2. Darstellung des Bürgerkrieges in Syrien und des Übergriffs der militärischen Auseinandersetzungen auf den Irak
  3. Darstellung des Aufstiegs des IS. Gericht betont, dass es sich beim IS nicht um einen Staat, sondern um eine fundamentalistische Miliz handele.
  4. Die Verfolgung der Jesid:innen durch den IS
    IS verfolgte Angehörige religiöser Minderheiten als „Ungläubige“ (Kopfsteuer zu zahlen) oder „Abtrünnige“. Unter Letztere fielen auch Jesid:innen, die der IS als „Teufelsanbeter“ definierte. IS erstrebte nach den Feststellungen des Gerichts zielgerichtet ihre Vernichtung als Gruppe. Beim Angriff auf Sindschar im August 2014 handelte es sich um einen zentral geplanten, koordinierten Angriff des IS auf die Jesid:innen. Der IS besetzte das Gebiet, enteignete, nahm Menschen gefangen und zerstörte Heiligtümer und Kulturstätten.Dabei fand eine unterschiedliche Behandlung zwischen Männer und Frauen statt: Männer wurden gezwungen zu konvertieren und dann als Zwangsarbeiter eingesetzt. Solche, die sich weigerten, wurden in Massenexekutionen hingerichtet. Jungen ab 7 Jahren wurden von ihren Eltern getrennt und gezwungen in die Koranschule zu gehen. Ab einem Alter von 14 Jahren mussten sie eine militärische Ausbildung absolvieren und wurden gezielt zu Selbstmordanschlägen eingesetzt. Frauen wurden verschleppt und versklavt, ihnen wurde die Fortbewegungsfreiheit entzogen. Jüngere Frauen wurden Sexsklavinnen und ältere Frauen Haushaltssklavinnen oder getötet. Sklavenmärkte fanden u.a. in Rakka, online oder privat statt. Der Preis richtete sich nach Alter und Schönheit und lag im drei bis vier-stelligen US-Dollarbereich. Das Gericht betonte, dass in dem Zuge auch ungewollte Schwangerschaften entstanden und zum damaligen Zeitpunkt jeder Geschlechtsverkehr mit einem nicht-jesidischen Mann für die Frau den Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft bedeute. Aus Sicht des IS dienten die Vergewaltigungen von jesidischen Frauen auch der Zeugung von Kindern muslimischen Glaubens, also der Verdrängung der jesidischen Ethnie. Neben diesem Hauptziel diente die Versklavung wohl der Beschaffung finanzieller Mittel.
  5. Angeklagter als Teil der IS-Strukturen
    Der Angeklagte habe Kenntnis vom Bürgerkrieg gehabt und habe sich in Kenntnis und Billigung der Ziele des IS diesem angeschlossen. Er sei in die Strukturen eingegliedert gewesen, insb. habe er Ruqyah [s.o.] praktiziert. Er habe auch einen anderen Namen im IS  gehabt – Abu M.. Er habe weiterhin Kenntnis vom Sklavenhandel als Teil der Vernichtungsmaßnahmen gegen die Jesid:innen gehabt und Nora B. und ihre Tochter Reda gekauft.
  6. Beschreibung Leidensweg Nora B.
    Mehrere Verkäufe, Zeugin wurde tlw. auch vergewaltigt, mit ihrer Tochter Reda von Angeklagtem auf Sklavenmarkt in Rakka gekauft. Zeugin und Tochter verbrachten mehrere Wochen im Haushalt des Angeklagten. Dieser habe über ihr Leben bestimmt. Häufig verschiedene Bestrafungen, oft auch anlasslos, insb. körperliche Züchtigungen. Nora B. lebte deshalb in einem Zustand ständiger Angst. Angeklagter gab Reda den Namen „Ranja“, da er ihren Namen für den einer „Ungläubigen“ hielt. Nora B. und ihrer Tochter wurde teilweise Nahrung verweigert, sie durften nur bitteres, warmes Leitungswasser trinken. Sie wurden gezwungen Hausarbeit zu verrichten, ohne Vergütung dafür zu erhalten. Insbesondere fanden auch Körperverletzungen zum Nachteil des Kindes statt. Der Angeklagte habe im Rahmen einer solchen Bestrafungsaktion das Kind für eine Nacht an einen fremden Mann verliehen. Insgesamt sei den Beschreibungen von Nora B. Glauben zu schenken. Grund: Emotionalität und Gleichartigkeit der Schilderungen sowie der eindeutigen und sicheren Differenzierung zwischen verschiedenen Personen, die sie gefangen gehalten hatten.
  7. Die Tötungshandlung
    Tod des Kindes wurde nach den Feststellungen des Gerichts durch einen Hitzeschlag 2. Grades verursacht. Dieser sei entweder schon eingetreten, bevor Taha A J das Kind von den angelegten Fesseln befreite oder bald danach, ohne dass andere kausale Umstände hinzugetreten wären. Der Tod des Kindes sei als bewiesen anzusehen. Das ergebe sich u.a. einer Auskunft eines IS-Mitarbeiters ggü. Nora B ihre Tochter sei verstorben sowie aus einer Aussage eines Onkels des Angeklagten. Es sei kein besonderer Belastungseifer erkennbar gewesen.
    Taha Al J handelte dabei aber nicht mit bedingtem Tötungsvorsatz. Es sei zwar objektiv vorhersehbar gewesen, dass Kind sterben würde. Aus Äußerung ggü. Jennifer W., dass schon nichts passieren werde, ginge aber hervor, dass er nicht an tödlichen Ausgang glaubte. Im Versuch, dem vermutlich schon toten Kind Wasser zu geben und es ins Krankenhaus zu fahren zeige sich zudem, dass ihm Tod wohl nicht erwünscht war.
  8. Völkermordabsicht
    Rolle des Angeklagten im IS und sein Verhalten auch nach dem Sturz des IS zeigt, dass er die Ziele des IS kannte und billigte. Taha Al J wollte durch die Sklavenhaltung zielgerichtet die jesidische Gruppe zerstören. Jesid:innen waren für ihn nichts wert. Das zeigt sich in einer Gesamtschau der Behandlung der Zeugin, insb. in der Umbenennung des Kindes und dem Zwang von Nora B. und Kind zu religiösen Handlungen wie dem Sprechen des muslimischen Gebets.
  9. Minder schwerer Fall? (-)
    Pro:
    –          Angeklagter versuchte an Tatort, noch zu helfen (Wasser, Krankenhaus)
    –          lange zurückliegende Tat
    –          Schwere Kindheit des Angeklagten, im Bürgerkriegsgebiet aufgewachsen und gewaltvolle Erziehung
    –          Folge der Verurteilung = Haft in fremdem Land ohne Familienanbindung unter Staatsschutzbedingungen Contra:
    –          Neben Völkermord noch Verbrechen gg die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen (in Tateinheit) verwirklicht mit fahrlässig verursachter Todesfolge
    –          Insg. 4 Einzeltatbestände bei § 7 VStGB verwirklicht
    –          2 Opfer
    –          Kriegsverbrechen als Täter (§ 25 I Alt. 1 StGB) und als Gehilfe verwirklicht (§ 27 I StGB)
    -> Im Rahmen einer umfassenden Würdigung kein minder schwerer Fall
    8. Besondere Schwere der Schuld? (-)
    -> Insb. keine vorsätzliche Tötung
  10. Adhäsionsklage
    Nach irakischem Zivilrecht (Rom II-VO) begründet. Schadensersatz i.H.v. 50.000 € für immateriellen Schaden erscheint angesichts der finanziellen Verhältnisse des Angeklagten als angemessen. Betonung, dass Geld nie ausreichende Entschädigung für Leid sein könne, dass Nora B. angetan wurde.
  11. Belehrung
    Revision zulässig. Verteidigung verkündet im direkten Anschluss vor Medienvertretern, dass Revision bereits eingelegt sei.
4. Februar 2022