Amnesty-Fibel des Völkerstrafrechts

Teil 01:
Geschichte des Völkerstrafrecht

Von Nürnberg nach Rom: Entwicklung des Völkerstrafrechts 1945 bis 2002
Alexandra Obermüller

Während im Völkerrecht vieles auf dem sogenannten Gewohnheitsrecht beruht oder sich zumindest daraus entwickelt hat, ist das Völkerstrafrecht direkt aus einer realen Notwendigkeit heraus entstanden. Die Geschichte des Völkerstrafrechts ist deshalb insbesondere eine von grausamen Verbrechen, aus deren Ahndung und Aufarbeitung es sich entwickelte.

Die Nürnberger Prozesse gelten als die Geburtsstunde des völkerstrafrechtlichen Systems. Doch, so paradox es angesichts der historischen Entwicklung erscheinen mag, waren bereits vor dem Ersten Weltkrieg vielerorts Stimmen zu vernehmen, die sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzen. So wurde etwa 1909 der Völkerbund gegründet. Im Folgejahr 1910 wurde die Stiftung Carnegie Endowment for International Peace in Washington gegründet mit dem Ziel der Vermeidung internationaler Konflikte. Der Weg führte über zwei Weltkriege mit zahlreichen Opfern und einer traumatisierten Post-Konflikt-Gesellschaft nach Nürnberg.

 

1945 Die Nürnberger Prozesse

Am 08.08.1945 wurde mit dem Londoner Viermächteabkommen das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof (IMT – international military tribunal) verabschiedet, der die Grundlage der Nürnberger Prozesse darstellte. Es umfasste 30 Artikel, die unter anderem die Straftatbestände

  1. a) Verbrechen gegen den Frieden,
  2. b) Kriegsverbrechen
  3. c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit

enthalten. Völkermord als Straftatbestand war im Statut des IMT nicht aufgeführt, wurde aber als Folge der Nürnberger Prozesse erfasst (s. unten).  Es konnten nur jene Straftaten vor Gericht gebracht werden, die zwischen 1939 und 1945 begangen wurden und im direkten Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg standen. Revolutionär war jedoch, dass das IMT-Statut festlegte, dass die militärische Stellung eines Angeklagten bzw. das „Handeln auf Befehl“ einer Strafverfolgung nicht im Wege stünde und Verantwortung für solche Taten übernommen werden müsse. Nach nur zehn Monaten Verhandlungsdauer unter Richterschaft der Alliierten, die je eine Anklagevertretung sowie einen Richter und einen Stellvertreter stellten, wurden 12 Todesstrafen, drei lebenslange Freiheitsstrafen, vier langjährige Freiheitsstrafen und drei Freisprüche verkündet. Die Todesstrafe wurde durch Erhängen vollzogen, was als erniedrigend und für einen Soldaten als unehrenhaft galt. Hermann Göring entzog sich der Vollstreckung dieses Urteils durch Suizid.

Am 11.12.1946 wurden die o.g. Tatbestände als Nuremberg Principles von der Generalversammlung der Vereinten Nationen als Völkerrechtsprinzipien bestätigt und vier Jahre später kodifiziert.

1945-1965 Die Nachfolgeprozesse

Die Besatzungsmächte waren befugt, eigenständig weitere Prozesse in ihrer Besatzungszone durchzuführen. Unter Federführung der USA wurden die Verfahren gegen im NS-Regime tätige Ärzt*Innen, Jurist*Innen oder Mitglieder von Einsatztruppen weltweit bekannt.1961 erregte der sog. Frankfurter Auschwitzprozess mediale Aufmerksamkeit.

1964 führte der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zu internationalem Aufsehen. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer wurde in 2. Instanz zum Tode verurteilt.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkriegs / Die Jahre des Kalten Kriegs

Wie bereits erwähnt, war Völkermord (Genozid) im IMT-Statut nicht aufgeführt. Am 09.12.1948 erfolgte jedoch die Verabschiedung der Völkermordkonvention, durch die Genozid als Straftatbestand nunmehr anerkannt war.

Nicht direkt im Zusammenhang mit dem Völkerstrafrecht, aber dennoch wesentlich -auch für dessen Anerkennung-, ist die Universelle Deklaration der Menschenrechte vom 08.12.1946. Die Nationalsozialist*Innen haben Menschen nach unterstellten biologischen Kriterien sowie der Lebensführung kategorisiert, sich selbst als „Herrenrasse“ deklariert und damit all jenen, die ihrer Ansicht nach nicht in diese Kategorie passten, ihrer Würde beraubt. Mit der Deklaration der Menschenrechte wurde auch im ideologischen Sinne die Wichtigkeit der Rechte eines jeden Individuums bekräftigt.

Die 1990er Jahre: Ruanda und Jugoslawien

Während nach dem Fall des sog. Eisernen Vorhangs sowie des Endes der Sowjetunion im Westen sowie in Osteuropa überwiegend Aufbruchstimmung und Euphorie herrschten, spitzte sich auf dem afrikanischen Kontinent ein auf koloniale Zeiten zurückzuführender Konflikt auf dramatische Weise zu. Auch in Jugoslawien schwelten alte Hassgefühle, die nach Ende der UdSSR eskalierten. 

Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JStGH)

Bereits 1992 kam es zu massiven, gewaltsamen Konflikten im damaligen Jugoslawien. Eine Kommission der Vereinten Nationen sollte den Wahrheitsgehalt der Berichte ethnischer Säuberungen und Massenexekutionen überprüfen. Sie empfahl die Errichtung eines Straftribunals, der mit Beschluss des UN-Sicherheitsrat von 1993 entsprochen wurde (Resolution 827). Das entsprechende Statut wurde wenige Monate später verabschiedet. Der JStGH, mit Sitz im niederländischen Den Haag, prozessierte gemäß Statut ausschließlich Verbrechen, die seit dem Jahr 1991 begangen wurden, die sich auf jugoslawischem Territorium ereignet haben und die einen oder mehrere der folgenden Tatbestände erfüllten: Schwere Verletzungen der Genfer Konventionen, Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges, Völkermord sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Das letzte Verfahren wurde Ende 2017 abgeschlossen, auch der JStGH wurde noch in diesem Jahr geschlossen. Der JStGH bemühte sich neben der prozessualen Aufarbeitung der Jugoslawien-Kriege auch um Wiedergutmachungsprozesse in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens. Das Ergebnis ist bescheiden. Gerade in Serbien besteht die Auffassung, dass die eigene Opfer-Position unterminiert, dafür aber überproportional viele serbische Verantwortliche verurteilt worden seien. 

Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (RStGH)

Nachdem fast eine Million Menschen der Hutu und Tutsi in Ruanda ermordet wurden, beschlossen die Vereinten Nation 1994 -nach Beendigung des Konflikts- die Errichtung eines Strafgerichtshofs für Ruanda, mehr oder weniger nach dem Vorbild des JStGH. Das (nach westlichem Rechtsverständnis ausgelegte) Statut des RStGH ahndete insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Völkermord. Auf Grundlage eines internen Konflikts fiel der Tatbestand des Kriegsverbrechens außer Acht. Auch der RStGH ist seit 2012 nicht mehr tätig.

Von Nürnberg nach Rom

Der JStGH und der RStGH sind dabei nur stellvertretend für zahlreiche Ad hoc-Tribunale zu nennen. Auch in Kambodscha, Osttimor und Sierra Leone wurden beispielsweise solche Strafgerichtshofe notwendig. Ist die Strafverfolgung bei solchen national beschränkten Prozessen selektiv?

Um diesen häufig geäußerten Vorwurf endgültig zu beseitigen sowie gegen Impunität der Täter*Innen schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen anzukämpfen, kam es im Jahr 1998 zu einer Konferenz, die für die Geschichte des Völkerstrafrechts ein Meilenstein war: auf der Diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz in Rom wurde das Römische Statut verabschiedet. Es dient als Rechtsgrundlage für den Internationalen Strafgerichtshof mit ständigem Sitz in Den Haag.

Aktuell haben 123 Staaten das Römische Status ratifiziert und sich unter dessen Gerichtsbarkeit unterworfen. Russland, die USA und China gehören nicht dazu.

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20. August 2023