Amnesty-Fibel des Völkerstrafrechts

Teil 03:
Struktur des Völkerstrafrechts

Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts und Aufbau der Kernverbrechen
Teresa Quadt

Die große Herausforderung des Völkerrechts ist das Erreichen eines Konsenses unter den so unterschiedlichen Nationen, denn darauf basiert das multilaterale Völkerrechtssystem. Insbesondere im strafrechtlichen Bereich ist die Frage, welche Grundprinzipien für alle gelten sollen, besonders schwer zu beantworten ist. Zwar gibt es allgemeine Überzeugungen, die von allen Staaten geteilt werden, z.B. das Prinzip nullum crimen sine lege – kein Verbrechen ohne Gesetz-, jedoch darf nicht vergessen werden, dass Staaten durch grundverschiedene Rechtssysteme geordnet sind, die Gesetzgebung und insbesondere Gesetzesanwendung und -auslegung bestimmen. Das anglo-amerikanische System beispielweise orientiert sich an sogenannten ‚general prinicples‘, die für die Interpretation von Gesetzestexten ausschlaggebend sind. Die deutsche Rechtstradition folgt einer Zweiteilung in einen allgemeinen (auf alle darauffolgenden Gesetztestexte anwendbaren) und einen besonderen Teil von Rechtsgebieten.

Damit aber nicht nur die größtmögliche Anzahl von Staaten einem völkerrechtlichen Vertrag zustimmt bzw. deren Inhalt ratifiziert, sondern auch stets gegenseitiger Respekt und Gleichwertigkeit gewährleistet werden, muss die Berücksichtigung der Unterschiede der Rechtsordnungen besondere Beachtung finden. Das Völkerstrafrecht in Form des IStGH-Statuts verkörpert einen derartigen Gesetzestext (zum Zustandekommen). Einerseits spiegelt das Statut die o.g. Zweiteilung in einen allgemeinen und einen besonderen Teil wider, sodass bestimmte Regelungen des Statuts automatisch auf alle besonderen Vorschriften anwendbar sind (Art. 22 ff. IStGHSt). Dies entspricht der deutschen Strafrechtsdogmatik, auch wenn die termini nicht ausdrücklich verwendet werden. Andererseits folgt die Prüfung eines Verbrechens, also der Erfüllung eines Straftatbestandes, nicht der dreigliedrigen Struktur des deutschen Rechts, sondern einer zweigliedrigen, die im ‚common-law‘ gängig ist (s.u.). Da Deutschland ein eigenes VStGB zur Implementierung des Rom-Statuts in deutsches Recht geschaffen hat (Verlinkung Teil 2), gilt neben dem Statut und dem VStGB über die „Umschaltnorm“ des § 2 VStGB auch der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, also das StGB. Diese Regelungen müssen jedoch im völkerrechtlichen Sinne ausgelegt werden, d.h. völkerrechtsfreundlich und angelehnt an die Rechtsprechung internationaler Gerichte und Völkergewohnheitsrecht, statt nur an die deutsche Judikatur und Wissenschaft.

Die ‚Elements of Crimes‘, ein Instrument, das die Merkmale der einzelnen Tatbestände in einem eigenständigen Katalog konkretisiert, ‚shall assist‘ die Rechtsanwender*innen bei der Auslegung des Völkerstrafrechts. Sie gelten aber gegenüber den Rom-Statut als subsidiäre Rechtsquelle.

 

Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts

Die Stellung der Regelungen, die als allgemeiner Teil bezeichnet werden können, ist etwas unübersichtlich. Denn im IStGH-Statut sind sie nach – und nicht wie im deutschen Recht vor – den Einzeltatbeständen zu finden. Den Artikeln 22 bis 33 IStGHSt liegen die o.g. allgemeinen Grundsätze des Strafrechts zugrunde. Elementar sind hier die Beteiligungsformen wie Täterschaft (Art. 25 III a IStGHSt), Veranlassung und Unterstützung (Art. 25 II b IStGHSt), Beitrag zu einem Gruppenverbrechen und insbesondere die Vorgesetztenverantwortlichkeit (Art. 28 IStGHSt), die historisch bedingt gerade solche Täter*innen erfassen soll, die nicht selbst handeln, sondern Untergebene für sich handeln lassen. Genau wie im deutschen Recht ist der Versuch auch im Völkerrecht strafbar (Art. 25 III f IStGHSt), Rücktrittsregelungen gelten hier ebenfalls. Außer für das Verbrechen der Aggression stellt das Statut die Vorbereitung und Planung nicht unter Strafe. Außerdem sind Strafausschließungsgründe (‚defences‘) im allgemeinen Teil geregelt (Art. 31 bis 33 IStGHSt), die anders als im StGB nicht in Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, sondern allgemein in ‚Strafausschließungsgründe‘ unterteilt werden. Darunter fallen inter alia Irrtümer, Notwehr und Notstand sowie Schuldunfähigkeit (Art. 31 a IStGHSt). Interessant ist auch hier wieder die Frage des Handelns auf Befehl (Art. 33 I IStGHSt), das unter engen Voraussetzungen eine Strafbarkeit entfallen lässt. Dies wäre aber nur dann der Fall, dürfte der oder die Handelnde davon ausgehen, der Befehl sei gesetzmäßig. Das Völkerstrafrecht geht davon aus, dass Befehle zur Begehung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit und Genozids jedoch immer offensichtlich rechtswidrig sind, sodass diese ‚defence‘ bei besagten Verbrechen niemals greift. Außerdem ist aufgrund der Schwere der Verbrechen Immunität unbeachtlich (Art. 26 IStGHSt) und eine Verjährung ausgeschlossen (Art. 29 IStGHSt).

Der Aufbau der Völkerrechtsverbrechen

Das besondere Rechtsverhältnis jedes Individuums zur Völkerrechtsgemeinschaft begründet die kollektive Betroffenheit bei der Begehung eines Völkerrechtsverbrechen. So ist beispielsweise der Völkermord, der darauf abzielt, eine Gruppe ganz oder teilweise auszurotten, nicht nur der Mord an einer Vielzahl von Menschen, sondern die Negierung dieser Rechtssubjektfähigkeit. Damit betrifft er alle Rechtssubjekte und ihr Verhältnis zur Weltgemeinschaft. Um diesen Durchgriff hervorzuheben und folglich ein internationales Verbrechen darzustellen, muss sich jede Einzeltat in ein Gesamtgeschehen einfügen lassen. Dieser kollektive Begehungszusammenhang ist das typische Merkmal der Völkerrechtsverbrechen. So erfordert beispielsweise ein Kriegsverbrechen das Vorliegen eines internationalen oder internen bewaffneten Konflikts, Verbrechen gegen die Menschlichkeit fordert einen systematischen oder ausgedehnten Angriff auf eine Zivilbevölkerung. Dieser Kontextzusammenhang gehört zum objektiven Tatbestand der Kernverbrechen. Für den Völkermord gilt ausnahmsweise ein subjektives Kontextelement, nämlich die spezifische Völkermordabsicht.

Der objektive Teil der Völkerrechtsverbrechen wird auch als äußere Tatseite bezeichnet (‚material elements‘) und erfordert ein (strafbares) Verhalten (‚conduct‘), besondere Begleitumstände (‚circumstances‘) und einen Kausalzusammenhang (‚consequence‘) zwischen Handlung und Erfolg. Liegt eine strafbare Einzeltat vor, muss sich diese über eine Rückkopplung in das übergeordnete Gesamtgeschehen einfügen lassen. Die innere Tatseite umfasst subjektive Kriterien (‚mental elements‘). Art. 30 IStGH erfordert Wissen und Wollen des Täters (‚intent and knowldge‘), gibt allerdings auch frei, dass besondere Vorsatzformen verlangt sein können (‚unless otherwise provided‘), wie z.B. die Zerstörungsabsicht beim Genozid (Art. 6 IStGHSt / § 6 (1) VStGB). Nicht gänzlich unstrittig ist die Frage, welches Maß an Kenntnis der oder die Täter*in hinsichtlich des Kontextes, also des Gesamtgeschehens haben muss, in das sich seine Tat einfügt. Trotz der Notwendigkeit der Einzelfallbetrachtung genügt in der Regel das Wissen des oder der Täters*in über die Begleitumstände (‚broader context‘).

Die Verbrechensstruktur des Völkerrechts ist an das common-law System angelehnt. Die Prüfung der o.g. Voraussetzungen erfolgt also zweigliedrig. Die ‚offence‘ umfasst dabei die objektiven und subjektiven Kriterien der Tat (actus reus und mens rea), die ‚defences‘ entsprechen ungefähr den Ausschlussgründen. 

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20. August 2023