Amnesty-Fibel des Völkerstrafrechts
Teil 06:
Genozid
Das Verbrechen der Verbrechen
Jamil Balga-Koch
Begriff und Definition
Das Verbrechen des Genozids wurde vom Ruanda-Tribunal als das „Verbrechen der Verbrechen“ bezeichnet. Denn das ultimative Ziel derjenigen, die Genozid-Taten begehen, ist nicht, die Menschen an sich zu töten, die angegriffen werden, sondern vielmehr eine bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, zu der die Angegriffenen gehören oder zu der sie von den Täter*innen als zugehörig angesehen werden. Der Begriff „Genozid“ wurde vom polnischen Juristen Raphael Lemkin 1944 geprägt. Er wollte dem Verbrechen einen Namen geben, der die Grausamkeit der Zerstörung jüdischen Lebens in Osteuropa widerspiegeln könnte. Während Mord einem Individuum das Recht des/der Einzelnen auf Leben abspricht, so spricht das Verbrechen des Genozids einer gesamten Gruppe das Existenzrecht ab. Genozid bedeutet Völkermord und kommt von genos (griechisch für Herkunft, Volk) und caedere (lateinisch für vernichten, töten). Die juristische Definition von Genozid findet sich in Artikel 2 der Genozidkonvention von 1948. Diese wurde bspw. in die Statuten der Tribunale für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994), in das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (1998) sowie in das deutsche Völkerstrafgesetzbuch (2002) übernommen. Damit ein Verbrechen den Straftatbestand des Genozids erfüllt, muss mindestens eine von fünf abschließend gelisteten Tathandlungen vorliegen, die sich gegen eine von vier genannten Gruppen – nationale, ethnische, rassische[1] oder religiöse Gruppe – mit der Absicht richtet, diese als solche ganz oder teilweise zu zerstören. „Als solche“ bezeichnet hierbei die angestrebte Zerstörung der Gruppe als Einheit und die Opfer werden nicht per se als Individuen, sondern aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit angegriffen. Hierzu gehört die Tötung von Mitgliedern der Gruppe, die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden, die absichtliche Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen, Maßnahmen zur Geburtenverhinderung sowie die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. Genau diese Absicht, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, unterscheidet Genozid von anderen Verbrechen. Gleichzeitig erweist es sich in der Praxis als äußerst schwierig, diese genozidale Zerstörungsabsicht zu beweisen, da sie die innere Tatseite darstellt.
Die geschützten Gruppen
Die vier oben genannten geschützten Gruppen sind weder in der Genozidkonvention noch in den Statuten der verschiedenen internationalen Strafgerichte näher definiert. In der Rechtsprechung des Ruanda-Tribunals wurde der Begriff „Gruppe“ als eine „stabile Gruppe“ ausgelegt, in der die Mitgliedschaft durch Geburt bestimmt wird. Eine ‚nationale Gruppe‘ definiert sich demnach über eine gemeinsame Staatsangehörigkeit, eine ‚religiöse Gruppe‘ über eine gemeinsame Religion und eine ‚ethnische Gruppe‘ teilt eine gemeinsame Sprache und Kultur. Diese abschließende Auflistung der vier geschützten Gruppen bedeutet jedoch, dass die Zerstörung bspw. einer politischen Gruppe (etwa die Mitglieder einer bestimmten Partei) nicht unter den Tatbestand des Genozids fällt. Während politische Gruppen noch in einem früheren Entwurf der Genozidkonvention genannt wurden, tauchten diese im abschließenden Text der Konvention nicht mehr auf. Der Ausschluss von politischen Gruppen wird deshalb auch als „blinder Fleck“ der Konvention bemängelt. Die Rechtsprechung des Ruanda-Tribunals hat allerdings den Anwendungsbereich des Verbrechens des Genozids erweitert, da es einen ‚subjektiven Test‘ für die Bestimmung der Mitgliedschaft in einer – in diesem Fall – ethnischen Gruppe einführte. Im Gegensatz zu einem ‚objektiven Test‘, demzufolge Mitgliedschaft bspw. durch die Staatsangehörigkeit (nationale Gruppe) oder Religion (religiöse Gruppe) des Opfers bestimmt wird, kommt es beim ‚subjektiven Test‘ darauf an, ob eine Person von den Täter*innen als Teil einer bestimmten Gruppe gesehen (identifiziert) wird und nur deshalb Opfer eines Angriffs wird. Dieser ‚subjektive Test‘ war nötig, um festzustellen, ob die Massenverbrechen der Hutus an den Tutsis in Ruanda 1994 als Genozid eingestuft werden konnten, da sich beide Gruppen aus subjektiver Perspektive als unterschiedlicher ethnischer Herkunft betrachteten. Tutsis und Hutus in Ruanda teilten eigentlich eine gemeinsame Sprache, Kultur und Religion. Unter belgischer Kolonialherrschaft wurden jedoch Identitätspapiere eingeführt. Die Unterteilung in Tutsi und Hutu führte dazu, dass sich die Angehörigen daraufhin als unterschiedliche ethnische Gruppen ansahen. Auch das Jugoslawien-Tribunal wendete später den ‚subjektive Test‘ zur Feststellung des Vorliegens einer bestimmbaren Gruppe an.
„Ganz oder teilweise“
Das Verbrechen des Genozids erfordert nicht die Zerstörung bzw. Tötung jedes einzelnen Mitglieds einer geschützten Gruppe. Vielmehr reicht eine teilweise Zerstörung der Gruppe aus, um einen Genozid zu begründen. Mit „teilweise“ ist die Zerstörung eines substantiellen Teils der Gruppe gemeint, der für ihre Fortexistenz als wesentlich betrachtet wird. Hierbei handelt es sich entweder um den Großteil der Gruppe (quantitativ) oder um einen wichtigen, repräsentativen Teil, wie bspw. der geistigen oder politischen Führung der Gruppe (qualitativ). „Teilweise“ kann zudem auch die Zerstörung einer Gruppe in einem bestimmten geographischen Gebiet bedeuten. So sah das Jugoslawien-Tribunal die Ermordung von 8.000 bosnisch-muslimischen Männern und Jungen in Srebrenica im Juli 1995 und die Deportation der bosnisch-muslimischen Frauen, Mädchen, Kleinkinder und Alten aus dem Gebiet als Genozid an – auch wegen der symbolischen Bedeutung der muslimischen Bevölkerung von Srebrenica für die muslimische Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina.
Die genozidale Zerstörungsabsicht
Damit eine Handlung den subjektiven Tatbestand des Genozids erfüllt, muss der/die Täter*in neben dem Vorsatz, eine bestimmte Handlung (bspw. Tötung von Mitgliedern einer Gruppe) zu begehen, auch die genozidale Zerstörungsabsicht verfolgen, mit der Tat eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Diese spezifische Völkermordabsicht (zielgerichteter Erfolgswille der Zerstörung) zu belegen, hat sich in der Rechtspraxis als schwierig erwiesen. Gibt es keinen direkten Beweis für eine solche Absicht, wie etwa eine hinreichende Dokumentation, so kann dies durch Indizien bewiesen werden. Im Völkerstrafrecht ist der Gesamtkontext, in den sich die Einzeltat einfügen muss, entscheidend. Das Ruanda-Tribunal hat bspw. die systematischen Angriffe auf die Tutsis unabhängig von Geschlecht und Alter, die hohe Anzahl an Gräueltaten, die Benutzung von diffamierender Sprache sowie die Involvierung der Angeklagten als hinreichenden Beleg für eine genozidale Zerstörungsabsicht angesehen. Ein Taterfolg, im Sinne der tatsächlichen Zerstörung einer geschützten Gruppe ganz oder teilweise, ist für eine Verurteilung wegen Genozids unerheblich. Entscheidend ist, ob die Täter*innen mit der Absicht handelten, eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, wie auch bspw. das Oberlandesgericht Frankfurt 2015 in einem Verfahren zum Genozid in Ruanda feststellte. Gab es zudem eine Politik eines Staates oder einer Organisation zur Begehung von Genozid, zu der die Handlungen der Täter*innen gehörten, kann hiervon die genozidale Zerstörungsabsicht der Taten abgeleitet werden. Eine solche Politik ist für die juristische Feststellung, ob ein Genozid vorlag, zwar kein notwendiges Kriterium. Ein Vorliegen kann aber bei der Feststellung helfen, ob der/die Täter*in in realistischerweise davon ausgehen konnte, die Zerstörung der Gruppe auch erreichen zu können. In der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs heißt es zudem, dass Genozid nur vorliegt, wenn die relevante Handlung eine konkrete Bedrohung für die Existenz der angegriffenen Gruppe als Ganzes oder teilweise darstellt. [1] Originalbegriff aus der Genozidkonvention. Amnesty International lehnt das Adjektiv „rassisch“ ausdrücklich ab.
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