Amnesty-Fibel des Völkerstrafrechts
Teil 09:
AGGRESSIONSKRIEG
Wenn die Friedensuhr stehen bleibt
Alexander Dobes
Eines der Gründungsziele der Vereinten Nationen war von jeher die Sicherung des globalen Friedens. Unter anderem das allgemeine Gewaltverbot sollte diesen garantieren. Als Ausprägung dieses Verbots (Art. 2 Nr. 4 UN-Charta) gilt deshalb grundsätzlich auch ein Verbot des Angriffskriegs (Aggressionsverbot), welches heute in Art. 8bis IStGHSt geregelt ist. Es bildet das vierte der sogenannten Kernverbrechen oder core crimes neben dem Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Obwohl der Grundstein des Völkerstrafrechts bereits bei den Nürnberger Kriegstribunalen gelegt, und auch der war of aggression beziehungsweise die crimes against peace kontextualisiert wurden, konnte sich die Internationale Gemeinschaft erst 2010 auf eine Definition im Statut des Internationalen Gerichtshofs einigen.
Definition des Aggressionskriegs
Die Begriffe Aggressionskrieg und Angriffskrieg werden synonym verwendet. Darunter versteht man die Anwendung von Gewalt durch einen Staat oder Staaten gegen einen anderen Staat, ohne dass der Angreifer entweder von dem angegriffenen Staat vorher selbst angegriffen worden wäre, ein solcher Angriff unmittelbar bevorstünde oder der angegriffene Staat dem Angreifer den Krieg erklärt hätte oder Teile seines Territoriums besetzt hielte. Vom Angriffskrieg ist folglich der Verteidigungskrieg zu unterscheiden, welcher seit dem Briand-Kellogg-Pakt 1929 als Reaktion des angegriffenen Staates zur Abwehr und Verdrängung des angreifenden Staates völkerrechtlich zulässig ist. Ein Aggressionsverbrechen ist nach dem IStGHSt, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbare Anwendung von Waffengewalt durch einen anderen Staat“ (Art. 8bis Abs. 2 IStGHSt). In den folgenden Absätzen des Art. 8bis IStGHSt werden einzelne Angriffshandlungen genauer definiert. Mittlerweile existieren zahlreiche unterschiedliche nationale Definitionen des Angriffskrieges, welche weitestgehend mit der völkerrechtlichen Definition übereinstimmen (vgl. z.B. § 13 VStGB). Im Dezember 2017 beschlossen die Vertragsstaaten des Römischen Statuts die Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofes in Bezug auf das Aggressionsverbrechen, wodurch die völkerrechtliche Definition, auf die man sich während der Kampala Conference einigte, auch praktisch anwendbar wurde. Angesichts der dadurch geschaffenen Möglichkeit des IStGH, künftig über Fälle entscheiden zu können, bei denen es um das Vorliegen eines Angriffskrieges geht, erhält auch die Diskussion über die völkerrechtlichen Grundlagen von Militäreinsätzen neue Impulse. Da bisher noch kein Fall vor dem IStGH verhandelt wurde, gibt es keine gefestigte Rechtsprechung zum Aggressionsverbrechen.
Struktur des Tatbestands
Das Aggressionsverbrechen setzt wie alle Kernverbrechen einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand voraus.
- Objektiver Tatbestand
-
- Tatobjekt (Staat)
- Tathandlung (Angriffskrieg oder sonstige Angriffshandlung geplant, vorbereitet, eingeleitet
oder ausgeführt) - Offenkundige Verletzung der UN-Charta
- Täterqualifikation (Führungsperson, sog. leadership clause)
- Subjektiver Tatbestand
-
- Vorsatz (Art. 30 IStGHSt)
Zu Verwirklichung des objektiven Tatbestandes genügt grundsätzlich schon eine Angriffshandlung. Allerdings müssen die Angriffshandlungen eine gewisse Schwelle überschreiten, „ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen darstell[en]“ (Art. 8bis Abs. 1 IStGHSt). Auf diese Weise wird ein bestimmter Bereich völkerrechtswidriger Gewaltanwendung vom Verbrechenstatbestand ausgeschlossen. Dazu zählen beispielsweise Aggressionshandlungen von geringer Intensität sowie ein „völkerrechtlicher Graubereich“. Wie die Schwellenklausel konkret im Einzelnen auszulegen ist, ist äußerst umstritten und wird voraussichtlich erst durch die zukünftige Rechtspraxis des Internationalen Strafgerichtshofes entschieden werden. Für den subjektiven Tatbestand genügt Vorsatz im Sinne des Art. 30 IStGHSt; ein spezieller animus aggressionis ist nicht erforderlich. Die Verwirklichung des Tatbestands ist bis auf die offenkundige Verletzung der UN-Charta relativ einfach nachweisbar. Allerdings wird durch Staaten und sonstige Völkerrechtssubjekte versucht, geführte Angriffskriege unter dem Deckmantel einer Intervention auf Grundlage des Völkerrechts legitimieren.
Neuere Aggressionskriege und Rechtfertigungsversuche
Trotz des Gewalt- und Aggressionsverbots gibt es immer noch zahlreiche Angriffskriege, auch nach der der Aktivierung des Tatbestandes im Jahr 2017. Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, nachdem 2014 mit der Krim bereits ein Teil der Ukraine annektiert wurde. Damit steht der Krieg auch wieder vor den Toren Europas. Um der Bedeutung von Frieden für die europäische Staatengemeinschaft in der heutigen Zeit Rechnung zu tragen, wurde in Minden eine „Friedensuhr“ installiert.[1] In Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung wurde die Friedensuhr in die ukrainische Flagge gehüllt .[2]
Genau genommen hätte die Friedensuhr schon früher stehen bleiben müssen. Es gab in der näheren Vergangenheit auch in Europa bewaffnete Konflikte, wie u.a. der Krieg in Jugoslawien in den 1990er Jahren. Der Angriff der NATO auf Jugoslawien im Rahmen der kosovarischen Unabhängigkeitsbestrebungen wurde als „humanitäre Intervention“ begründet, um der Schutzverantwortung gegenüber der zivilen Bevölkerung nachzukommen. Dabei lag weder das völkerrechtlich erforderliche UN-Mandat noch ein NATO-Bündnisfall vor. „Im Rückblick erscheint die Kosovo-Intervention 1999 wie ein ferner Signalmast aus einer unipolaren, westlich dominierten Welt.“ Das spiegelt sich auch in weiteren Versuchen wider, Interventionen in den 2000er Jahren zu legitimieren. Die Intervention der USA in Afghanistan wurde infolge der Terror-Anschläge auf das World Trade Center im Jahr 2001 als (präventive) Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta deklariert.[3] Von präventiver Selbstverteidigung wird gesprochen, wenn sie gegen eine zweifelsfrei unmittelbar bevorstehende oder bereits stattfindende Angriffshandlung des Gegners gerichtet ist. Ebenso wie diese Präventivdoktrin ist auch die präemptive Selbstverteidigung äußerst umstritten. Diese liegt vor, wenn Abwehr einer abstrakten Bedrohungslage , bei der konkrete Anhaltspunkte für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff fehlen. Aus diesem Grund wurde diese Doktrin in den Jahren 2002 und 2006 als Grundlage für die nationale Sicherheitsstrategie der USA vor dem Hintergrund einer potentiellen Bedrohung durch Terrorist*innen und Massenvernichtungswaffen verwendet.
Allerdings können solche Rechtfertigungsansätze auch dazu führen, dass sich aus der Staatenpraxis ein entsprechendes Völkergewohnheitsrecht entwickelt. Das hätte die Konsequenz, dass sich diese Rechtfertigungsgründe neben dem völkerrechtlich anerkannten Selbstverteidigungsrecht und UN-Mandat etablieren würden. Für den Einsatz der NATO in Libyen 2011 wurde wiederum ein neues Konzept zur Begründung herangezogen: Das Konzept „Responsibility to Protect“, welches von der International Commission on Intervention and State Sovereignty entwickelt wurde.[4] Danach sollten die Staaten kollektive Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung ergreifen, wenn ein Staat seiner Schutzverantwortung offenkundig nicht nachkommt. Diese Idee ist der internationalen Gemeinschaft jedoch nicht neu; schon während der Kolonialisierung wurde die scheinbare, zivilisierte Überlegenheit einzelner Staaten für Übergriffe auf andere Staaten ausgenutzt.[5] Dies zeigt, dass das Völkerrecht nicht nur eine friedenstiftende Wirkung hat, sondern ebenso missbraucht werden kann, um Kriege oder sonstige Aggressionen zu rechtfertigen. Häufig wird neben den Versuchen der Strafverfolgung, wie auch derzeit gegen die russische Föderation, auf wirtschaftliche Sanktionen zurückgegriffen, um Druck auf die Staaten auszuüben. Das Gebot der friedlichen Streitbeilegung erlaubt solche Maßnahmen als ein nach dem Völkerrecht zulässiges Mittel (vgl. Art. 39 UN-Charta) zur Beendigung des Verstoßes gegen das Gewaltverbot. Das Völkerrecht kann also durchaus ein Instrument gegen Aggressionskriege sein. Weitere solcher Rechtfertigungsversuche bürgen dagegen die Gefahr, dass sich ein entsprechendes Gewohnheitsrecht entwickelt. Auf diese Weise würde sich das Völkerrecht mit seinen eigenen Waffen schlagen.
[1] Weiterführend zum Projekt der Friedensuhr: https://lionspw.de/projekt-europaeische-friedensuhr-75-jahre-frieden-freiheit-und-demokratie-in-europa/.
[2] „Friedensuhr“ in Minden wegen des Angriffs auf Ukraine verhüllt, SZ, 18.03.2022, https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-minden-friedensuhr-in-minden-wegen-angriffs-auf-ukraine-verhuellt-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220318-99-576780.
[3] Siehe hierzu auch Jochen von Bernstoff, Afghanistan und ‚Great Power Interventionism‘ als Selbstverteidigung, VerfBlog, 2021/10/08, https://verfassungsblog.de/os1-interventionism-de/
[4] ICISS 2001, Z. 6.15, S. 50.
[5] Siehe hierzu Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, The Rise and Fall of International Law 1870-1960, Cambridge University Press 2009.