Amnesty-Fibel des Völkerstrafrechts
Teil 07:
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
„Politics gone cancerous“[1]
Teresa Quadt
Historische Entwicklung des Tatbestands
Die Terminologie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurde zunächst im Zusammenhang mit der Sklaverei verwendet, jedoch bildete sich daraus zunächst kein rechtlich anerkanntes Konzept, sondern vielmehr eine sich langsam abzeichnende Rechtsauffassung der Weltgemeinschaft. Im Rahmen der Haager Friedenkonferenz 1899 wurden die „Grundsätze der Menschlichkeit“ zum ersten Mal im völkerrechtlichen Sinne erfasst, nämlich in der Präambel des Haager Abkommens. Die sog. Martens Klausel war als frühe Rechtsgrundlage zwar umstritten, gilt aber heute als anerkanntes Gewohnheitsrecht. Die Verbrechen an der armenischen Bevölkerung 1915 führten zur erneuten Beschäftigung mit dem Begriff und einer potenziellen Bestrafung der Täter*innen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Begriff und Konzept des Genozids existierten noch nicht). Zweifel hinsichtlich des Gesetzlichkeitsprinzips führten schließlich zu einem hohen Maß an Straflosigkeit. Die Verbrechen des NS-Regimes mündeten letztendlich in der Kodifizierung des Tatbestands in Artikel 6 (c) des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs (IMT-Statut). Bedauerlicherweise konnten Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur im Zusammenhang mit dem Aggressionskrieg oder Kriegsverbrechen begangen wurden („nexus requirement“). Damit waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwar endlich anerkannt und niedergeschrieben, jedoch nicht als eigenständiger Tatbestand. Der Wortlaut des Kontrollratsgesetz Nr. 10, der Strafverfolgungsgrundlage in den Besatzungszonen, forderte allerdings schon keinen Zusammenhang mehr. In der Nachfolgezeit blieb die Notwendigkeit einer endgültigen Definition bestehen, es kam jedoch zu keiner Einigung innerhalb der Internationalen Gemeinschaft. Die Statute des RStGH und JStGH stellten zwar Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe, unterschieden sich aber in ihrem Wortlaut. Die Tatbestände erfassten die jeweilige Situation (im Zusammenhang mit einem Konflikt in Jugoslawien, Verfolgung auf Grund von rassistischen, politischen, ethnischen Gründen in Ruanda), jedoch mangelte es weiterhin an einer präzisen und allgemeingültigen Definition der Verbrechensmerkmale auf internationaler Ebene. Erst 1998, mit der Verabschiedung des Rom-Statuts, wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Artikel 7 des Statuts abschließend und hinreichend bestimmt definiert.
Definition und geschützte Rechtsgüter
Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt vor, wenn ein*e Täter*in eine der im Straftatbestand genannten strafbaren Handlungen (s.u.) im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs auf eine Zivilbevölkerung begeht. Dabei muss die Einzeltat des oder der Täter*in vorsätzlich und in Kenntnis des Angriffs begangen werden. Die einzelnen Handlungen müssen zudem im sachlichen und funktionalen Zusammenhang mit der Gesamttat stehen; sie werden also zu dem völkerrechtsrelevanten Gesamtgeschehen verknüpft. Damit wird nicht nur die erhöhte Gefährdungssituation begründet, sondern auch die Erhebung der Taten von national zu verfolgenden Kapitalverbrechen zu Verbrechen auf völkerrechtlicher Ebene. Dieser Aspekt wird durch die von Artikel 7 IStGH-Statut geschützten Rechtsgüter nochmals hervorgehoben. Einzeltaten, die auf nationaler Ebene strafrechtlich verfolgt werden können, schützen zumeist Individualrechtsgüter wie z.B. Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung. Da die Einzeltaten der Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch in einem Angriff auf eine Zivilbevölkerung einbettet sein müssen, wird deutlich, dass der Tatbestand das Individuum als Teil der Zivilbevölkerung und damit das Kollektiv schützt. Dennoch basiert dieser Schutz auf der Menschenwürde des Einzelnen und wird daher aus den universellen Menschenrechten abgeleitet. Der Staat, als Schutzpatron der Zivilbevölkerung, ist damit insbesondere dann Akteur, wenn er entweder seiner Schutzfunktion nicht nachkommt oder eben gerade seine Machtposition ausnutzt und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begeht. Dem Völkerstrafrecht inhärent sind natürlich der Schutz des globalen Friedens und der internationalen Sicherheit als Rechtsgüter anerkannt.
Struktur des Tatbestands
Die Prüfung des Tatbestands wird wie alle Kernverbrechen in „offence“ und „defences“ eingeteilt. Die offence wird durch einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand begründet. Die defences entsprechen Strafausschließungsgründen.
Gesamttat
Zunächst postuliert der Tatbestand das Vorliegen einer Gesamttat, auch Kontextelement oder chapeau genannt. Eine Tatsituation liegt vor, wenn die folgenden Merkmale erfüllt sind:
- Tatobjekt (Zivilbevölkerung)
- Funktionaler Gesamtzusammenhang (Angriff)
- Art oder Natur des Angriffs (systematisch oder ausgedehnt)
- Mehrfache Begehung der Einzeltaten
- Einer Politik eines Staates oder Organisation folgend (policy element)
- Erfordernis eines Zusammenhangs (as part of / pursuant to)
- Kenntnis über die Begleitumstände (mens rea: knowledge of broader context of the attack)
Einzeltathandlungen (actus reus)
Liegt eine Tatsituation im o.g. Sinne vor, können Einzeltaten wie Mord, Folter, Freiheitsentziehung oder Vergewaltigung zu einer Strafbarkeit führen. Ausrottung, Verfolgung einer Gruppe, Versklavung und Vertreibung werden ebenfalls genannt. Die in den Elements of Crimes legal definierten Begriffe verdeutlichen, dass eine Komparabilität in der Schwere der Taten nötig ist. So regelt auch Art. 7 (1) (k) IStGH-Statut, dass die Liste nicht abschließend ist, sondern auch „andere, in Schwere vergleichbare, unmenschliche Handlungen“ erfasst werden (residual clause). Zweifel am Bestimmtheitsgrundsatz hinsichtlich letzteren Tatbestands fordern jedoch eine enge Auslegung. Als vergleichbar wurde bisher beispielsweise Zwangsheirat diskutiert (zuletzt vom IStGH im Fall Ongwen bejaht. Allerdings wurde seitens des Verurteilten Rechtsmittel eingelegt, sodass die Berufungskammer des IStGH den Tatbestand des Art. 7 (1) (k) ggf. erneut verhandeln wird). Das Rückwirkungsverbot verbietet außerdem dessen Anwendung als Auffangtatbestand. Dennoch ist es ein wichtiger Teil des Straftatbestands, da er ansonsten bestehende Gesetzeslücken zu schließen vermag.
Subjektiver Tatbestand (mens rea)
Außerdem bedarf es eines Kenntniselements hinsichtlich des Gesamtkontextes der Verbrechen (knowledge of). Auch die gelisteten Einzeltaten müssen mit Wissen und Wollen begangen werden (intent and knowledge). Teilweise fordern Einzeltaten auch eine besondere Absicht hinsichtlich einer Folge (special intent crime). Das zwangsweise Verschwindenlassen von Menschen beispielsweise fordert zusätzlich zur vorsätzlichen Handlung die Absicht, den Menschen „für längere Zeit dem Schutz des Gesetzes zu entziehen“. Für das Verbrechen der Apartheid ist die Absicht, das Regime der unterdrückenden Rassentrennung und -diskriminierung aufrechtzuerhalten, erforderlich.
Implementierung in nationales Recht: Gesetzeslücken im deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)
Seit 2002 gilt das Völkerstrafgesetzbuch in Deutschland, das eigens geschaffen wurde, um Völkerrechtsverbrechen auf nationaler Ebene zu verfolgen. Der Zweck des VStGB ist unter anderem die Verfolgbarkeit der Völkerstraftaten nach dem Weltrechtsprinzip, also auch dann, wenn kein Deutschlandbezug zu Tat, Opfer oder Täter*in besteht. § 7 VStGB regelt Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ist weitgehend an den Tatbestand des Art. 7 IStGH angelehnt. Allerdings bestehen Gesetzeslücken insbesondere im Hinblick auf geschlechtsbezogene Gewalt in Form von sexualisierter und reproduktiver Gewalt sowie Schutzlücken im Bereich der prozessualen Rechte. Um die sich daraus ergebende geschlechtsbezogene Diskriminierung zu beseitigen, fordert das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) eine Reform des deutschen VStGB und damit die Angleichung des deutschen Rechts an internationale Standards.
[1] David Luban, ‘A Theory of Crimes Against Humanity’, 29 Yale J. Int’l L. 85-167 (2004) 119.